Kleine Geschichten und Dialoge


DIE MÄRCHENBURG (Ausschnitt), Aquarell / Tinte, 1984, ©Johann Wolfgang Busch
DIE MÄRCHENBURG (Ausschnitt), Aquarell / Tinte, 1984, ©Johann Wolfgang Busch

Inhalt  (weitere Geschichten im Blog):


2019

 

DER SCHNEE, DIE ERDE UND DAS SCHNEEGLÖCKCHEN
(Frei nach der Geschichte "Wie der Schnee seine Farbe bekam")

Heilend lag Schnee über der Mutter Erde
und kühlte ihre Wunden blütenrein.
"Ich will der Trost in deinen Tränen sein,
bis aus der Not ein ewig Grün dir werde!"

Die Erde hörte still was er erzählte
und wie er einst so reichlich ward bedacht.
Und Hoffnung war ihr, blütenweiß, erwacht,
als sie erfuhr, wie er die Farbe wählte:

"Denn eine nur gab mir von ihrer Farbe",
so sprach der Schnee, "es war das Schneeglöcklein,
als ich noch farblos, traurig und allein
war ihre Reinheit Heilung meiner Narbe!"

Da sah der Schnee die ersten grünen Triebe
aus seinem und der Erde Herzen gehn -
Wer sonst hat noch das Schneeglöckchen gesehn,
so weiß, so grün, im Lächeln ihrer Liebe?
 

©Johann Wolfgang Busch, 2019

 

 

 

DORT, WO DIE ZÜGE DES LEBENS ANKOMMEN UND ABFAHREN

Weißt du noch, als wir uns zum ersten Mal am Bahnhof trafen
und du mich erkanntest
unter all den ankommenden Reisenden,

dort, wo die Züge des Lebens ankommen und abfahren?

Als du auf mich zugingst und wir uns so innig umarmten,
als hätten wir uns ein ganzes Leben und eine Sternenzeit
auf unser Wiedersehen gefreut?

Vielleicht werde ich nicht da sein, wenn dein letzter Zug fährt,
aber ich werde dich erkennen
unter all den ankommenden Reisenden,

wenn wir uns wie zum ersten Mal am Bahnhof treffen
und ich auf dich zugehe und wir uns so innig umarmen
wie nach einem ganzen Leben und einer Sternenzeit,

dort, wo die Züge des Lebens ankommen und abfahren!.
 

© Johann Wolfgang Busch (2019)

 

 

 

ERINNERUNG AN EINEN ROSENKREUZER

Ich war damals etwa 19 Jahre alt, als ich mit einem alten Rosenkreuzer nach einem Tempeldienst noch einige Runden im Innenhof des Zentrums spazieren ging. Wir sprachen über den Weg des Rosenkreuzes und verschiedene Hindernisse, die einen Menschen davon abhalten können, diesen Weg zu gehen. So kamen wir auch auf das Thema der Streitbarkeit, des inneren Streits.

"Sie müssen da noch hindurch gehen", sagte er, "und manchen Kampf durchstehen. In meiner Situation jedoch, wollte ich das noch so tun wie Sie, hätte dies fatale Folgen für mich." Wir liefen im Innenhof Runde um Runde und ich merkte gar nicht, wie die Zeit verging. "Aber Sie", fügte er hinzu, "Sie müssen das noch tun!"

Was ich damals ahnte ist mir heute, viele Jahre nach diesem für mich unvergesslichen Gespräch, zur Gewissheit geworden. Er hatte zu mir, ohne sie zu erwähnen, von der Quelle des Inneren Friedens gesprochen, die sich erst öffnet, wenn der Mensch nach vielen ausgefochtenen Kämpfen endlich bereit ist, der Stimme seines innersten Wesens zuzuhören. Es ist die Stimme der Andacht aus den Tiefen des Menschenherzens, die Quelle des Inneren Friedens, aus der die Kraft und der Mut zur vollkommenen Wandlung störmt.

ch denke oft voll inniger Hochachtung und Dankbarkeit an diesen alten Herrn zurück, an seine unberirrbare Geduld und Weisheit, die er mir damals, mehr erst geahnt von mir, als schon verstanden, reichte.
 

© Johann Wolfgang Busch (2019)

 

 

 

STEINE IM MOSAIK DER WELT - Ein Dialog

"O reiner Schwan, o du Schwan von Licht, sage, was verbirgt mir der Welt Angesicht?"

"Dein Blick ist's, der nicht in die Tiefe dringt, dein Ohr noch taub, wo dir das Lied der Schöpfung klingt."

"Ich höre des Wassers Stimme und Melodie noch in der Stille des Steins, und des Lichts Harmonie. Ich höre den Atem der Rosen im Morgenlicht, und lausche der Sonne, bevor der Tag anbricht!"

"Was nützt es wenn du weißt um die Einheit der Welt, wenn du nicht trägst und deine Hand nicht hält und alles aus deinen Händen fällt?

"Habe ich nicht gelernt Verantwortung für mich selbst zu tragen, und weiß ich nicht im Anblick der Schuld immer zuerst mich selbst zu fragen?"

"Die Tugenden sind Steine im Mosaik der Welt, wo Verantwortung Mitgefühl zärtlich umfangen hält wie die Mutter das Kind, wo Treue und Liebe verbunden sind wie Geliebte, die durch das Dunkel gehn und durch alles Dunkel den Liebsten sehn, wo Freiheit und Nähe ganz eines sind - erkenne die Welt, mein Kind, und lerne dich selbst verstehn!"
 

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2017

 

FREUDE UND SCHMERZ - Ein Dialog

W:
Die Augenblicke der Freude bleiben rein
wie des leuchtenden Himmels Blau,
über das der Wind dunkle Wolken treibt,
weil die dürstende Erde des Regens bedarf.

E:
Unsere Tränen netzen den Boden
und das Blut unsrer Herzen
düngt die Erde,
da wir unsere Unschuld verloren
und Schmerz begleitet
die helle Freude.

W:
In unsere Tränen mischt sich
die Trauer des Himmels
über seine verlorenen Kinder,
und das Blut unserer Herzen
mischt sich mit dem Duft
des Erwachens der neuen Erde.

E und W:
Der Esse der Schmerzen entsteigen,
im Licht göttlicher Unschuld,
die neuen Kinder der Freude.

© Johann Wolfgang Busch (2017

 

 

HAUSTÜR, Öl auf Holz, 1984, ©Johann Wolfgang Busch
HAUSTÜR, Öl auf Holz, 1984, ©Johann Wolfgang Busch

 

BIS ZUM ENDE DER KINDHEIT

Er rannte über den großen unbefestigten Parkplatz auf das alte Haus seiner Kindheit zu, das, wie seine Mutter ihm einmal erzählt hatte, wohl schon 500 Jahre alt war, und über dessen Haustür, welche ihm von ihrer Größe, Form und ihrem Gewicht her, mehr wie ein Tor aus dem Mittelalter erschien, ein goldfarbenes eisernes Kreuz befestigt war. Mochte es auch viel älter als 500 Jahre gewesen sein und aus der Zeit der Kreuzritter und "Der Armen Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem", wie man die Templer nannte, stammen, in Kindheitstagen hatte er darüber nicht nachgedacht, wohl aber mit Holzschwert und Schild aus Pappkarton gerüstet manche Befreiungsschlacht geschlagen. Wie oft war er hinter diesem Tor in dem dunklen Haus verschwunden, das ihn wie mit einem großen hungrigen Maul verschlang. "Hier wohnst du bis zum Ende der Kindheit", hörte er es einmal in seinen Gedanken sagen, als wäre es ein Wesen, das sich nicht nur all die Jahrhunderte seit dem Beginn der Kreuzzüge in Europa, sondern auch Generationen von Menschen, so wie sie gerade vom Baum des Lebens herunter gefallen waren, gierig einverleibt hatte.

Jetzt, da er sich dem Haus seit längerer Zeit wieder näherte, verlangsamte er seinen Schritt. Er hörte das Rauschen des Flusses, an dessen Ufer er als Kind die flachen Steine über das Wasser springen ließ, auf dessen kleinen Inseln er mit anderen Kindern die Welt ritterlicher Helden und Burgfrauen zum Leben erweckt, und unter dessen Brücken er Bekanntschaft mit Wasserratten und den von ihrer Zeit vergessenen Obdachlosen gemacht hatte. Alles schien wie damals, und es mochte wohl Wochenende sein, denn nur dann parkten hinter dem Haus keine Autos mehr. Dann verwandelte sich der große Platz in eine Welt der Sagen und Märchen, und Kinder stürmten und verteidigten den der westlich angrenzenden Stadtmauer vorgelagerten und gerade noch erkletterbaren kubusförmigen Luftschachtbau, als wäre er die Burg von König Artus und den Rittern der Tafelrunde.

Aber etwas war anders, als es damals gewesen war, das wusste er wohl. Er war kein Kind mehr, sondern näherte sich den Erinnerungsbildern vergangener Tage als ein Erwachsener. Das Haus seiner Kindheit hatte ihn freigegeben, als seine Mutter vor einigen Jahren gestorben war, und das ihm so sehr bekannte alte Eichentor war für dieses Leben in anderer Richtung hinter ihm zugefallen. "Nun finde deinen Weg ins Leben und werde Miterbauer am großen Hause der Welt!", mochte es ihm wohl noch nachgerufen haben, wenn er es nur hätte hören können. Aber zu laut klagte seine innere Trauer über den Verlust seiner Mutter, und seine insgeheim gehegte, vor sich selbst gut versteckte Todessehnsucht hatte im letzten Jahr eher zugenommen, statt weniger zu werden.

Er blickte auf eines in der Reihe der Fenster, aus dem sie immer hinaus geschaut und ihn gerufen hatte, wenn das Essen zubereitet war, und er widerwillig den Jungen und das Mädchen, die ihn am Wochenende immer besuchen kamen, um Teil seiner Abenteuer als Tarzan, Winnetou oder Lancelot zu sein, warten lassen musste. Niemand sah heute aus diesen Fenstern hinaus. Wie die leeren Augen eines Leichnams hüllten sie sich mit ihrem gebrochenen Blick in tiefes Schweigen. Doch die halbbewusste Ahnung einer bevorstehenden Begegnung trieb ihn weiter, und so gelangte er durch den wohlbekannten, mit Steinplatten gefliesten Hausgang bis an die halbgeöffnete Wohnungstür und trat ein. Als er die Zimmertür jenes Zimmers, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, auftat, stand da, direkt vor ihm  - seine Mutter. Auch wenn sie splitternackt war, was ihm sehr merkwürdig erschien, wollte er sie doch nach so langer Zeit und in der Freude des Wiedersehens in seine Arme schließen. Doch dann geschah etwas Sonderbares. Sie wich vor seiner Umarmung zurück und wehrte ihm zugleich mit den Handflächen ihrer ausgestreckten Arme näher zu kommen. Auch schien sie nicht sprechen zu können, aber ihre Mimik, Gestik und der wache, warnende Blick ihrer Augen sprachen eine deutliche Sprache. Da erwachte er.

Dieser Traum war ein Erlebnis, das ihn noch lange Zeit beschäftigen sollte. Zu klar waren die Konturen der erlebten Bilder, die ihn über die Schwelle des Traumes, in das, was die Menschen Wachbewusstsein nannten, begleitet hatten, und zu intensiv die in diesem Erlebnis gespürte Wahrheit einer anderen Wirklichkeit, um es je wieder vergessen zu können. Was hatte es zu bedeuten, dass seine verstorbene Mutter nackt gewesen war? War es vielleicht nicht nur ein Traum gewesen, und hatte sich die echte Begegnung ihrer Seelen in dem für ihn traumlosen Bereich des Schlafes in all diese Symbole seiner Erinnerung gekleidet, weil er aus seinem jetzigen Leben keine eigenen Bilder von den Ebenen der Begegnungen zwischen Lebenden und Toten hatte? War ihre Nacktheit das symbolische Bild der entleibten Seele, die den irdischen Körper ihres vergangenen Erdenlebens wie ein altes, abgetragenes Gewand ausgezogen hatte? War ihre zurückweisende Haltung nur die symbolische Information seines eigenen Unterbewusstseins, um ihn auf seine gefährliche Todessehnsucht hinzuweisen, der er seit einiger Zeit verfallen war, oder behütete auf diese Weise tatsächlich die Seele eines Verstorbenen seinen weiteren Erdenweg? "Mutter, bist du es?" Erst ein anderer Traum, den er Jahre später träumen würde, sollte ihm die Antwort auf all diese Fragen geben.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2016

 

EINMAL WERDEN AUCH WIR LEBEN, MEINE LIEBE

"Einmal werden auch wir tot sein", sagtest du, als wir über die Mauer des friedlichen Gartens blickten, wo all die Grabsteine in der Stille des Nachmittags ruhten, als kennten sie keine Tränen, als hätten sie die Sorgen der Menschen nie gekannt.

"Es gab auch eine Zeit, da wir noch nicht lebten", antwortete ich, doch ich sagte nicht alles, meine Liebe, etwas verschwieg ich. Was war es doch noch? Ich hatte es vergessen, bevor es mir eingefallen war. So ist es oft mit den Dingen des Geistes - wir vergessen sie, bevor wir sie erlebten. Und darum erinnern wir sie nicht. Aber was wir nicht erinnern, das träumen wir nur. Oh, wären wir doch nicht so vergesslich! Wir leben, als kennten wir die Tränen nicht, als hätten wir die Sorgen der Menschen nie gekannt.

Ich will dir noch etwas sagen, meine Liebe, etwas das ich noch erlebte, als ich mich erinnerte: "Einmal werden auch wir leben, meine Liebe. Dann werden wir uns treffen und wir werden uns lieben. Und wir werden über die Mauer des friedlichen Gartens blicken, wo all die Grabsteine in der Stille des Nachmittags ruhen, als kennten sie keine Tränen, als hätten sie die Sorgen der Menschen nie gekannt.

Und du wirst mich anlächeln meine Liebe, und wirst sagen: 'Einmal werden auch wir tot sein', und dann werden wir uns erinnern an all die Tränen, an all die Sorgen der Menschen, und ich werde dich umarmen und küssen, meine Liebe, und werde dir antworten: 'Einmal werden auch wir leben. Einmal werden wir lebendig sein, meine Liebe, und wir werden leben, wo es keine Grabsteine gibt, keine Tränen und keine Sorgen. Dann, wenn wir uns an alles erinnern, was wir einstmals träumten, meine Liebe."
 

© Johann Wolfgang Busch

 

 

 

DIE FARBEN NEUER UNBEKANNTER TAGE

Wir gingen am Ufer des Sees entlang. Schon waren Menschen wie die Bienen ausgeschwärmt, um diesen warm durchsonnten Frühling einzuatmen.

Und wieder war es einer jener Augenblicke, die mich zuweilen überkamen, in denen mir der Raum und auch die Zeit in ihrer Summe zum Ereignis eines Unsagbaren wurden. Ungewordenheit trägt dann die Welt und alle Offenbarungen der in ihr zeitlich existenten Wesen.

Wir lächelten uns leise an in diesem Irgendwo des Raumes und dem Irgendwann der Zeit, und fühlten uns durchströmt von diesem Nirgendwo und Nirgendwann, das alle Dinge trägt und ihnen wundersames Leben schenkt. Einmalige Momente der Vergänglichkeit sind es, und doch sind sie geborgen in dem Wunder, das niemals vergeht.

Einst wird man dieses Buch der Zeit gelesen haben, dies Epos der Schöpfung, dachte ich, all jene Abenteuer von Geburt und Tod, all die Kapitel von des Menschen Werden im geheimnisvollen Wesen, das die Welt erschuf, und Menschen, die das große Rätsel lösten, indem sie selbst des Rätsels Lösung wurden, wie aus der Weisheit Liebestat aus freiem Wollen werde.

Still nahmen wir uns an der Hand und gingen heimwärts während schon die Sonne sank, und noch im Sinken diese Welt ins Licht und in die Farben neuer unbekannter Tage tauchte.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 

 

DIE MASKE

"Und nimm endlich diese Maske ab", sagte er, nach Stunden sinnlosen Gespräches etwas ungeduldig geworden, "sie ist zwar ein feines Stück aus der 17. oder 18. Dynastie, aber sie sollte am besten da sein wo sie hingehört!" "Ach, wohin gehört sie denn deiner Ansicht nach?", fragte sie hörbar verunsichert, die Maske, die wie aus einem Stück goldglänzend gearbeitet war, und nicht nur als Meisterstück damaliger ägyptischer Handwerkskunst gelten konnte, mit zitternden Hän...den hastig berührend, um sich ihrer schützenden Gegenwart noch einmal zu versichern. "Auf das Gesicht der Mumie, der sie vermutlich von Grabräubern entwendet wurde", entgegnete er sichtlich entspannter als noch vor einigen Minuten. "Gefällt sie dir nicht an mir, sehe ich nicht aus in ihr wie eine Göttin, deine Göttin?"

Es verschlug ihm erneut die Sprache und für einige Augenblicke hüllte sich die Szenerie in tiefes Schweigen. Als müsste er für das, was er nun sagen wollte erst Anlauf nehmen, entwickelten sich seine Worte erst langsam und leise, dann lauter und bestimmter werdend. "Weißt du", sagte er schließlich mit fast unwiderlegbarer Gewissheit, "ich sehe lieber in die tiefen Augen deiner Einsamkeit, in die gebrochenen Blicke deiner Gegenwart, als in die vergangenen Herrlichkeiten eines längst verlorenen Friedens.", und wie beiläufig fügte er hinzu "Nicht alles an der Illusion von heute ist ohne Wahrheit, aber alles an der Wahrheit von damals, ist heute zur Illusion geworden."
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 

 

"VON DEM MACHANDELBAUM
(Frei nach dem gleichnamigen Märchen der Gebr. Grimm)

Es sind wohl schon zweitausend Jahr,
als eine Frau ein Kind gebar.
Ein Sohn der Liebe reinster Glut,
so weiß wie Schnee, so rot wie Blut.
Als sie ihn sah, so gut und rein,
da starb vor Freud sein Mütterlein.

Ihr lieber Mann, von Kummer schwer,
er liebte, ach, sein Weib so sehr.
Umringt von einem Blütensaum,
am Grab bei dem Machandelbaum,
weinte er gar noch lange Zeit,
dann nahm er sich ein ander Weib.

So wurde ihm ein zweites Kind,
Marlenichen, so gut und lind.
Doch kam sein Weib der Böse an
da wurde sie dem Söhnchen gram:
"Für mein Marlen all Geld und Lohn,
verderben muss der fremde Sohn!"

Der Böse gab es ihr dann ein:
"Den Apfel gib ihm nur zum Schein,
und mit des Deckels, dieser Truhe
scharfem Rand, eiskalter Ruhe,
beugt er sich nach ihm hinab - dann
ratsch! - schlag ihm das Köpfchen ab!"

Doch aus der Angst, was sie getan
und eines Wahnes größerm Wahn
schmiedete sie sich einen Plan,
als ob Marlenchen es getan,
und band dem Brüderchen sodann
mit einem Tuch das Köpfchen an.

Dann sagte sie zu dem Marlen
sie solle hin zum Bruder gehn -
"Und wenn er schweigt, dann gib ihm, zack,
mit deiner Hand eins auf die Back'!"
Und als Marlene dies gemacht,
da viel dem Bub der Kopf herab.

Marlenichen weinte so sehr
hatte nun keinen Bruder mehr.
Die böse Frau, bis auf den Kopf,
kochte den Sohn im Suppentopf.
Marlenchen, ach, weinte noch mehr -
dem Vater schmeckte es so sehr.

Er wusste nicht, o welch ein Hohn,
dass hier der Vater aß den Sohn.
War's ihm doch, als wär all dies sein,
drum aß er alles ganz allein.
Unter dem Tisch Marlenichen
las auf Knöchlein und Benichen.

Zum Wunderbaum, so tränenschwer,
mit all den Blüten ringsumher,
brachte, im Tuch, Marlenichen
all ihres Bruders Benichen,
und legt' sie bei der Mutter Grab
im grünen Gras der Erde ab.

Die Äste wogten hin und her
und ineinander immer mehr,
ein Nebel stieg vom Baume auf
und Flammen loderten herauf,
und aus dem Feuer stieg und hob
ein Vogel sich und sang und flog.

O welch geheimnisvoller Ort,
die Knöchlein waren alle fort!
Der Baum, der sich so froh geregt
stand wieder still und unbewegt.
Als wäre all dies nicht geschehn
und nur ein Traum, was sie gesehn.

Doch weil der Vogel so schön sang,
ging Marlenchen mit leichtem Gang
zum elterlichen Hause hin,
das Herz so leicht und froh der Sinn.
Es ist, sie fühlt' es und erbebt',
als ob ihr lieber Bruder lebt!

Weit flog der Vogel dann hinaus
bis hin zu eines Goldschmieds Haus,
und auf dem Dach da hob er dann
so rein und klar zu singen an.
Von Auferstehung sagt und singt
die Liebe, die den Tod bezwingt:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Der Schmied, der eine Kette schuf
so golden schön, hörte den Ruf,
und sann und lauscht' und lauscht' und sann
dem Lied, das wie die Sonne klang.
Und mit der Kette in der Hand
sprach er dem Vogel zugewandt:

"Was singst du, Vogel, ach so schön
und bist so lieblich anzusehn?
Was ist dies für ein Zauberklang?
Niemals ein Vogel schöner sang -
Noch einmal, bitte, sing dies Lied,
vor dem das Weltendunkel flieht!"

"Gib mir die Kette, ganz von Gold!",
sprach da der Vogel, fein und hold.
"Schenkst du sie mir? Du hast die Wahl,
dann sing ich es dir noch einmal."
In seiner Krallen rechte Hand
gab ihm der Schmied das goldne Band.

Als ob die ganze Erde blüht
von Sonnenblut so warm durchglüht,
so klang des Vogels Lied, hab acht,
durch Raum und Zeit und Weltennacht!
Hör wie das reine Lied erklingt,
das von der Auferstehung singt:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Und weiter flog der Vogel aus
bis hin zu eines Schusters Haus,
und auf dem Dach da hob er dann
so rein und klar zu singen an.
Von Auferstehung sagt und singt
die Liebe, die den Tod bezwingt:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Der Schuster hört' es für und für
und lief im Hemd vor seine Tür,
und sah mit Wonn' auf seinem Dach
hell wie die Sonn' den Vogel, ach!
Und Frau und Kind und Mägte sahn
den goldnen Hals des Vogels an.

Mit Federn grün und rot wie Blut,
aus Leben, Tod und Liebesglut,
aus seinen Augen brach und bricht
es vor wie goldnes Sternenlicht.
Mit roten Schuhen in der Hand
sprach er dem Vogel zugewandt:

"Was singst du, Vogel, ach so schön
und bist so herrlich anzusehn?
Was ist dies für ein Zauberklang?
Niemals ein Vogel schöner sang -
Noch einmal, bitte, sing dies Lied
vor dem das Weltendunkel flieht!"

"Lass mein die roten Schuhe sein",
sprach da der Vogel, "die so fein!
Schenkst du sie mir? Du hast die Wahl,
dann sing ich es dir noch einmal."
In seiner Krallen linke gar
legte er ihm das Schuhenpaar.

Noch einmal hob er hierauf dann
so rein und klar zu singen an.
Der Vogel singt sein schönes Lied,
die Sonne klingt, das Dunkel flieht -
Von Auferstehung sagt und singt
die Liebe, die den Tod bezwingt:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Fort flog der Vogel, weit hinaus
bis hin zu einem Mühlenhaus,
und die Mühle hört' man klappen,
und die Müllerburschen hacken,
klippe, klappe, klippe, klapp,
hicke, hacke, hicke, hack.

Dort in des Lindenbaumes Grün
des Wipfels flog der Vogel hin.
Und als er saß, hob er sodann
ganz rein und klar zu singen an.
Von Auferstehung sagt und singt
die Liebe, die den Tod bezwingt:

"Mein Mutter, die mich schlacht",
da ist ein Müllerbursch erwacht,
"mein Vater, der mich aß",
und noch zwei lauschten da im Gras.
"mein Schwester das Marlenichen"
und vier noch sahn das Vögelchen.

"sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch",
gib acht! jetzt hackten nur noch acht,
"legt's unter", nur noch fünf im Traum -
noch einer - "den Machandelbaum."
Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Dies hört' der Letzte noch und setzt sich.
Da war es still in einem Nu
und alle sahn dem Vogel zu.
Und weil es eben nur der Schluss
des Liedes, und er hören muss
das ganze Lied, so sprach er denn:

"Was singst du, Vogel, ach so schön
und bist so herrlich anzusehn?
Was ist dies für ein Zauberklang?
Niemals ein Vogel schöner sang -
Sing auch für mich einmal dies Lied
vor dem das Weltendunkel flieht!"

"Gib mir den großen Mühlenstein,
dann will ich auch dein Sänger sein!",
sprach da der Vogel und ward still,
weil er die Antwort hören will.
"Ja, wenn es meiner wär allein,
ich gäb ihn dir, er wäre dein!"

Die andern Burschen sagten "Ja,
wenn er noch einmal singt so klar,
dann soll der große Mühlenstein
des Wundervogels Eigen sein!
Sing für uns alle dieses Lied,
vor dem das Weltendunkel flieht!"

Da kam der Vogel gleich heran
und zwanzig Müller fassten an
mit Bäumen diesen großen Stein.
Und dass er Kragen könne sein,
steckt durch das Loch, mit buntem Schopf,
der schöne Vogel seinen Kopf.

Als ob die ganze Erde blüht
von Sonnenblut so warm durchglüht,
so klang des Vogels Lied, hab acht,
durch Raum und Zeit und Weltennacht!
Hör wie das reine Lied erklingt,
das von der Auferstehung singt:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Und als das Lied gesungen war,
der letzte Ton verklungen war,
mit Kette, Schuh und Mühlenstein -
das sollten die Geschenke sein -
streckte er weit die Flügel aus
und flog zu seines Vaters Haus.

"Wie ist mir heute, ach, so leicht",
der Vater sprachs, die Frau erbleicht':
"Mir scheint es zieht ein Sturm herauf!"
Marlen weinte und hört' nicht auf.
Der Mutter ward es angst und bang,
da flog der Vogel schon heran.

Und setzte sich dort auf das Dach.
Vor Freude sprach der Vater "Ach,
wie scheint die Sonne heut so schön,
als sollt ich jemand wiedersehn!"
"Nein!", sprach die Frau, die Unheil fühlt,
"Feuer in meinen Adern glüht!"

Und riss voll Angst am eignen Leib,
um Luft ringend, sich auf das Kleid.
Marlenchen in der Ecke saß,
die Schürze ganz von Tränen nass.
Der Vogel, dies gewahrend kaum,
flog hin zu dem Machandelbaum.

Und von dem Baume hob er dann
so klar und rein zu singen an.
Der Vogel singt sein schönes Lied,
die Sonne klingt, das Dunkel flieht -
Von Auferstehung sagt und singt
die Liebe, die den Tod bezwingt:

"Mein Mutter, die mich schlacht"

da hielt die Frau, jetzt gib gut acht,
sich Augen zu und Ohren -
Im Sturm des Blutes tiefster Nacht
schien ihr alles verloren.

"Mein Vater, der mich aß"

"Ein schöner Vogel", sprach der Mann,
"singt da so innig wie er kann -
und warm aus tiefster Wonne
scheint heut die liebe Sonne."

"Mein Schwester das Marlenichen"

Marlen, den Kopf auf ihrem Knie -
saß da, o weh, wie weinte sie!
"Ich geh hinaus", sagte der Mann,
dass ich den Vogel sehen kann!"

»Ach", rief die Frau, "geh nicht hinaus
mir ist, als bebt das ganze Haus
und stünde ganz in Flammen,
bleiben wir doch zusammen!"

Aber der Mann ging schnell hinaus
ins Sonnenlicht vor seinem Haus
und sah sich diesen Vogel an,
der, ach, so herrlich singen kann.

"sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Machandelbaum.
Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Dann ließ er jene Kette gar
herunterfallen, wie sie war,
und wie sie fiel von Ast zu Ast
hat sie dem Vater gut gepasst
und sah am Hals so herrlich aus,
da lief er freudig in sein Haus.

"Sieh, dieser schöne Vogel hier
schenkte die goldne Kette mir",
Angst wurde da der Frau und ach,
sie fiel der ganzen Länge nach
hin, wie durch einen starken Sog,
dass ihre Mütze von ihr flog.

"Mein Mutter, die mich schlacht"

"Mir ist's wie wenn die Hölle rief
ach, wär ich tausend Klafter tief
unter der dunklen Erde,
dass ich das nicht mehr hörte!"

"Mein Vater, der mich aß"

O je, wie mehrte sich die Not
der Frau, schon fiel sie hin wie tot.

"Mein Schwester das Marlenichen"

Marlenichen sagte jetzt "Ach,
ich geh hinaus und sehe nach,
ob es das Schicksal so gelenkt,
dass mir der Vogel auch was schenkt!"

"Sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch"

Und dem Marlenchen, sieh nur zu,
warf er hinab die roten Schuh.

"Legt's unter den Machandelbaum.
Kiwitt, kiwitt, was für ein schöner Vogel bin ich!"

Da konnte sie nun fröhlich sein
und zog die roten Schuhe an,
und tanzte leicht und sprang herein
und sprach zu ihren Eltern dann:

"So traurig war ich, als ich ging
und jetzt, da ich so fröhlich bin
sag ich euch, dieser Vogel war
so schön und auch so wunderbar!
Er schenkte mir", so sprach das Kind,
die Schuh' hier, o, wie rot sie sind!"

Die Frau, die sehr in Nöten war
sprang auf und wie zu Berg das Haar
ihr stand, das lodernd sie umflammt',
weil sie hier keinen Ausweg fand.
"Mir ist als ob die Welt versinkt,
rief sie, von Angst die Augen blind.

"Ich will hinaus auch und vielleicht
wird es mir draußen wieder leicht!",
sprach sie und trat vor ihre Tür,
doch ach, was kam denn nun herfür?
Bratsch! warf der Vogel jenen Stein
ihr auf den Kopf und das Gebein.

Das hörten Vater und Marlen
und liefen raus um nachzusehn -
Da stieg ein Dampf und Flammenglut
auf - weiß wie Schnee und rot wie Blut,
und wie Gesang vom Blütensaum
klang es her vom Machandelbaum:

"Der Liebende, der durch den Tod
ging, um zu retten aus der Not,
und der den Menschen ganz durchglüht,
bis er das Leid der Wesen fühlt -
Er wandelt hier das Blei der Zeit
um in das Gold der Ewigkeit!"

Und durch den Nebel, im Verwehn,
sahn sie den kleinen Bruder stehn.
Unsterblich ist der Liebe Band,
und so an jeweils eine Hand
nahm er den Vater und Marlen,
um mit ihnen ins Haus zu gehn.

Und alle drei, wie du's hier liest,
da sich der Kreis des Lebens schließt,
waren erfreut und tief beglückt
und lauschten staunend und entzückt
dem Lied vom nahen Blütensaum,
herklingend vom Machandelbaum:

"Mein Mutter, die mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester das Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legts unter den Machandelbaum.
Kiwit kiwit, was für ein schöner Vogel bin ich!"
  

© Johann Wolfgang Busch, 2016

 

 


2015

 

DER LIEBE GOTT UND DER KLEINE VOGEL

"Deine kleinen Flügel haben mich über die Grenzen meiner Fantasie getragen, und die liebevollen Blicke deiner kleinen Augen haben mir eine tiefere Unendlichkeit gezeigt.", sagte der liebe Gott zu dem kleinen Vogel, "Dafür danke ich dir. Hast du einen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?"
"Lieber Gott", antwortete der kleine Vogel, "ich habe nur einen einzigen Wunsch. Lass mich in deinem ewigen Garten den Rosen der Liebe von der Bescheidenheit deines Herzens singen, damit sie ihren Ursprung niemals vergessen mögen!"
Da nahm der liebe Gott den kleinen Vogel und setzte ihn in seinen ewigen Garten, dort wo die Rosensträucher blühten. Da sang er sein Lied und die Sonne schien an diesem Tag heller als sonst, und auch die großen und kleinen Engel erstaunten über Gottes herrlichen Garten, als hätten sie ihn zum allerersten Mal gesehen.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2014

BALDUR, Aquarell, 2014, ©Johann Wolfgang Busch
BALDUR, Aquarell, 2014, ©Johann Wolfgang Busch

 

RAGNARÖK - DER GÖTTER DÄMMERUNG, DER WELTEN TIEFSTE NACHT

In alten sagenumwobenen Zeiten lebten Wassergeister nymphenhaft im Strome ewig junger Flüsse. Feuergeister hoben sich im Flammentanze himmelwärts, Töchter der Luft, Geister der Erde auch, bevölkerten in großer Zahl des Lebens großes und geheimnisvolles Haus. Das waren Zeiten, als die Menschen selbst noch sahen wie das „Leben“ nicht ein Wort nur sondern „Wesen“ war vom Größten bis ins Kleinste, ach, nun aber, o, entschwand durch Baldurs Tod, des hellsten aller Götter, jener lichterfüllte Blick - das schöne Spiel der hehren Gotteswelt, ihrer Gespielinnen und ihrer Helden, göttergleich - was blieb zurück?

Der Glaube, der - je erdenschwerer jenes Menschen lehmverschmiertes Auge in die geistentleerte Ferne starrt‘ - dann umso mehr zum Aberglauben wurde. Doch selbst der wurde abgeschafft: Denn geisterhaft bevölkerten Maschinen den einst blauen Himmel, bohrten Halbgöttern gleich sich durch der Berge ungehörtes Stöhnen, tauchten hinab zum Meeresgrund, nur um noch weiter in die Tiefe vorzudringen - mit Bohrern und mit Spießen gar noch Odins Auge endlich frech zu blenden, dort an der Weltenesche heiligem Wurzelgrund, wo er es opferte für Baldurs einstige Auferstehung…

 

Wozu noch glauben, wenn man es doch sehen konnte? Alles war da wie ehemals, alle Berufe waren stolz besetzt! Doch manche Seele ahnte, wenn sie in sich ruhte, dass ein Betrug sich schleichend, dieser Welt, die so verlassen tränenschwer, bemächtigt hat; und eingedenk der Stimmen, die in ihrer Stille leise sprachen, sagte sie:
„Ich weiß euch Geister hinter diesem Dunkel, wo Glaube einst den Strom des Lebens nachterfüllt bedeckte! Baldur, der Leuchtende, schon steht er da, schon harrt er dein, o Mensch, der du zum Sehenden des Lichtes bist erkoren!
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2013

 

DER WIND UND DER GARTEN DES LEBENS
(Eine Wintergeschichte für kleine und große Kinder)

Der Wind flog durch den Garten des Lebens.
Da sah er eine alte Eiche, die stand ganz still.
"was machst du?", fragte der Wind.
"ich übe mich in Standhaftigkeit", antwortete der Baum. "und warum tust du das?", fragte der Wind. "Davon wird man weise!", sagte die Eiche.

Da flog der Wind weiter zu den Blumen. Die bibberten und zitterten, denn der Herbst hatte den Garten des Lebens schon verlassen und der Winter spazierte mit knirschenden Schritten durch den Park.
"Was macht ihr?", fragte der Wind die Blumen.
"Wir üben uns in Demut!", antworteten die Blumen stolz. "Warum tut ihr das?", fragte der Wind. "Dadurch wird man weise!", sagten die Blumen, die schon ganz blau vor Kälte waren.

Da flog der Wind zu dem kleinen Teich in der Mitte des Gartens. "Was machst du?", fragte der Wind. "Ich übe mich in Bescheidenheit, antwortete der Teich. "Warum tust du das?", fragte der Wind. "Davon wird man weise!", antwortete der Teich knirschend, denn der Winter hatte ihn mit einer dünnen Eisdecke schon fast ganz zugedeckt.

Da riss die Wolkendecke auf und mit den letzten Sonnenstrahlen des Jahres kamen tausende von Schneeflocken vom Himmel herab. Sie hatten weiße Kleidchen an und kicherten wie kleine Schneemädchen. Die Sonnenstrahlen ließen ihre Kleidchen golden funkeln, als wären sie zu einer Hochzeit geladen. Schon hatten sie den Wind an den Händen genommen und wirbelten mit ihm durch den Garten. "Was macht ihr?", fragte der Wind, ganz außer Atem. "Wir tanzen!", riefen die Schneemädchen und kicherten. "Wird man davon weise?", fragte der Wind. "Ob du davon weise wirst, wissen wir nicht!", riefen die Flocken, "aber es macht ganz viel Freude!".
Da lachte der Wind und tanzte mit ihnen durch den Garten des Lebens, die ganze Nacht - bis zum nächsten Morgen.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 

 

MENSCHLICHES - ÜBERMENSCHLICHES
Ein Dialog zwischen des Menschen Seele und Geist

Der Geist:
Ich sah ein großes Licht am Horizont
bevor die Wolken es verdeckten,
doch Wolken zieh'n
vom Wind getrieben hin
und können nicht für immer uns
die Sonne ewigen Lichts verdecken.
So strahlt es,
wenn wir nicht mehr daran denken,
uns tief ins Herz
vergessener Erinnerung -
weil Geisteswind,
entfesselt aus des Schicksals
unsichbaren Strömen,
die Wolken unsrer Trauer
nordwärts trieb.

Die Seele:
O, du Geliebter meines Herzens,
was suchst du stets und immer
in der Welt der vielen Dinge?
Du selbst bist doch der Schatz
und jenes große Licht
am Horizont der Wunder!
Wie könnte ich in Worte fassen
was ich fühle, was ich denke?
O Freund, Fremder und Bruder, Kind,
o mein Geliebter -
Gefühl, das noch kein Wort erfand.

Der Geist:
Du fühlst in vielen unbekannten Welten
der eigenen Seele vielgestalt'ge Kraft -
du selbst bist tief, bist vielgestalt,
wie die Gefühle, die du fühlst.

Die Seele:
Als wärst du Wind, der mich berührt,
in Seelenwelten, die kein Mensch gesehn -
wo kein Mensch war, noch sein kann.
O mein Geliebter, wie kann ich dich lieben,
wie kann ich dich erfreuen, wie erfüllen
mit meiner Seele tiefer Sehnsuchtsglut?

Der Geist:
Schon liebst du mich geheimnisvoll
mit deines Herzens unbekannter Tiefe,
schon immer hast du mich erfreut,
geliebt mich in den Tälern der Erwartung!

Die Seele:
O, jene Liebe, die ich spüre,

die ich erglühend fühle -
ist sie noch menschlich?

Der Geist:
Du meinst, sie könnte schon -
ein Strahl sein aus dem Herzen
jenes Übermenschen?

Die Seele:
Ja!

Der Geist:
Noch ist der Übermensch ein Traum
solang' er nur in den Gedanken lebt,
solang er nicht der Seele
tiefste Sehnsuch fand,
am Grunde in dem Herzen
eines Menschen.
Lass' uns die Sonne dieses Tages
neu erfinden -
dass Geist- und Seelenlicht erstrahle,
dass wir, o Liebste, uns begegnen,
herströmend aus der Welt - und
strömend aus dem Herzen deines Ich.

Die Seele:
O, welche Freude! Ja!
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2006

 

DIE ERSCHAFFUNG DER WELT

Ein Bauvorhaben seltener Art entfaltete sich hier in einer Landschaft, die umgeben war von sanften Hügeln - wie ich hier hergekommen, weiß ich nicht zu sagen.
Obwohl ich keinen Vorarbeiter hier gewahren konnte, wusste jeder dieser Bauleute
an welcher Stelle welche Arbeit gleich von Nöten sein würde. Als würde jeder einen inneren, geheimen Bauplan kennen, so half hier jede dieser leuchtenden Gestalten
jedem Anderen in Freude und in stiller Eintracht. Ich kann mich nicht erinnern - obwohl die Helfer menschliche Gestalten trugen - je unter Menschen Ähnliches erlebt zu haben.
Die Baustelle, zu deren Rand ich mich voran getastet hatte, schien kraterförmig sich in eine Tiefe zu erstrecken, deren Grund ich nicht erkennen konnte. Wenn es auch schwer fiel, hier zu stören, so musste ich doch meine Frage - wenn ich je wissen wollte, was hier eigentlich geschah - einem der Leuchtenden jetzt stellen: "Welches Bauwerk wird denn hier errichtet?" Langsam hielt nun der Angesprochene in seiner Arbeit inne und wandte mir sein Angesicht entgegen. Sein konzentrierter und von aller Ungeduld befreiter Blick traf nun den meinen. "Wir erschaffen die Welt!", war seine klare und bestimmte Antwort.
Da erkannte ich nun endlich, dass ich selbst hier nur ein Gast war - die Zeit, sie drängte mich hinab in meine eigene Welt. Doch eine Frage war mir noch vor meinem Abschied wichtig, "Kann ich wiederkommen?" "Du kannst wiederkommen, wenn du zuerst gelernt hast ungefährlich zu werden allem Leben, allem Dasein gegenüber!"

Dann musste ich mich an den Abstieg machen. Alsbald umfing mich jene Dunkelheit
einer noch unvollendeten Welt.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


2001

 

RITTER DES LICHTS - EIN DIALOG

G: Wolltest du nicht ein Licht werden, ein Feuer am Firmament der Welt des Vorher und Nachher - kündend von Gottes anfang- und endloser Welt?

W: Ich wollte nicht glauben an meines Lebens Wert - in der Tiefe des Nichtseins wollte ich alles Sein begraben!

G: Wolltest du nicht eine Lichtsäule werden im grauen Tempel menschlichen Nebeneinanders, und leuchten denen, die einander finden wollen?

W: Dichter und dichter wollte ich die Materie machen, verstummen auch sollte der Geist - ersterben der letzte Hauch Phantasie.

G: Wolltest du nicht ein lebender Quell werden, Erfrischung und Heilung sein durstigen Wanderern in der "Wüste Leben"?

W: Verachtet hatte ich das Leben, es würgend, durchbohrend, sollte sein Blut ungesehen im Sand selbstgeschaffener Einsamkeit versiegen.

G: Wolltest du nicht Gefäß werden des ewig lebendigen Gottes, unwiderruflich selbst Weg werden, und Wahrheit und Leben?

W: In Lüge und Angst wollte ich alles Sein ersticken, und mit dem Blut der Verzweiflung das Angesicht meiner Brüder entweihen.

G: Wolltest du nicht, einem göttlichen Jünglinge gleich, in Märchenreichen den grauen Herren der Zeit Streiche spielen, und vergessene Kinder rufen zum Anbeginne ewigen Lebens?

W: Trotz und Widerspruch hatte ich mir zu Verbündeten gemacht,  zu ersticken wo immer Licht und Leben und Kunde von Freude entstehe.

G: Wolltest du nicht Lichtschwert sein in der Hand des liebenden Ritters, durchdringend die Festung vergänglichen Lebens - erweckend die Herzen zu ungeborenem, unsterblichem Glück?

W: Morgenstern in der Hand dunkler Mächte war ich geworden, unglückseliger Diener von Angst und Haß und Tod!

G: Erkanntest du nicht, daß "der Gott mit dem langen Barte" die Erfindung des Teufels war - abzulenken vom Heldentum unbezwingbarer Göttlicher Macht?

W: Je weiter ich floh, um so näher stand er vor mir. Und je härter ich mein Schwert gegen IHN führte, um so härter traf mich das seine - er ist unbezwingbar - mein Held, mein Gott!
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 

 

GESPRÄCH ZWISCHEN VATER UND TOCHTER ÜBER DIE WELT DER ENGEL

V: Wenn wir Menschen böse Taten vollbringen und diese in der Nacht mit zu den Engeln bringen, dann herrscht dort ein furchtbarer Gestank.
T: Und wenn wir gute Taten zu den Engeln bringen?
V: Dann duftet es dort so herrlich wie..., wie...
T: Wie in einem Rosengarten!
V: Ja genau! Woher weißt du das?
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1999

 

DAS BÖSE - EIN DIALOG

W: Das Böse ist gleich einem Weltenbrand der um die Erde wogt; und in der Außenwelt tritt nur ins Bild, des Bösen Macht im Inneren der Menschheit.

M: So gibt es keine Möglichkeit dem Bösen zu entfliehen?

W: Entsagen muß der Mensch den Eigennützlichkeiten, und frei die Seele werden von Berechnung - ganz ohne Falsch im Innern so wie Christusbotschaft es uns kündet: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Reich des Himmels kommen". Denn frei von dummem Humanismus war der Gottessohn auf Erden. Und seine Kunde ist erfüllt von tiefstem Wissen um des Menschen Wesen und Mysterium.

M: Ist denn ein Kind nicht völlig hilflos hier auf Erden, muß es nicht schwer erlernen was Erwachsene schon wissen?

W: Nicht was der Mensch erfahren hat soll er vergessen. Allein wie er Menschheit und Welt  entgegentritt, soll gleichen der Jungfräulichkeit der Seele eines kleinen Kindes - bar jeder Falschheit und auch frei von Egoismus. Das Haus des Bösen, riesenhaft erbaut, gleicht einem unterir'dschen Labyrinthe - gleicht einem Gang mit vielen Sälen, Treppen, Winkeln und gefahrenvollen Räumen. Es ist des großen Widersachers Reich - hier holt auch er periodisch seine Ernte ein. Und die Gewölbe dieses Reiches sind erfüllt von seinem Atem - die Gänge dröhnen, sie sind voll des  Widerhalles seiner Schritte, immer dann wenn er kommt um sich zu holen, was das Seine ist. Und wäre auch ein Mensch der vieles Gute tat, und hätte doch noch einen letzten boshaften Gedanken - er müßte diesem Herren doch verfallen; nicht einen Ausgang gäbe es für ihn aus diesem unterirdischen Gemäuer, wenn nicht des Gottes Allgüte und Liebe, das Haus der Seele restlos ihm erfüllte.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1998

 

DER BRUNNEN DES LEBENS - EIN DIALOG

W: Was wäre das wichtigste für einen Wanderer in der Wüste?
M: Daß er eine Oase fände, eine Quelle und Wasserbrunnen.
W: Nun nimm an, die Menschheit selbst wäre eine Wüste. Was wäre ihr das Wichtigste?
M: Daß sie eben einen solchen Brunnen fände!
W: Die Natur bringt Wüste und Brunnen aus sich sellbst hervor. Könnte sie es nicht aus sich selbst hervorbringen, so hätte sie nichts von Außen.
M: Heißt das, die Menschheit müsse den Brunnen aus sich selbst schöpfen?
W: Einzelne gab es immer, die sich für andere Menschen zu einem Brunnen und Quell für die lebendigen Wasser der höchsten Gottheit machten. Doch heute ist die Wüste groß, und die Brunnen sind rar.
M: Wird die Quelle des Gottes in der Hitze der Gegenwart versiegen?
W: Nein. Sie wartet im Herzen des Menschen selbst, bis er nach ihr dürstet, bis er aus Sehnsucht selbst zum Wasserbrunnen des Lebens  wird. So wird eines Tages die ganze Menschheit ein Brunnen sein - ein Meer des Lebens selbst. Denn ihrem innersten Wesen nach ist sie keine Wüste.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1994

 

DAS EWIGE LEBEN - EIN DIALOG

W: Im Labyrinth der Zeit
mit seinen hohen Wänden
zu zeugen von dem
tiefen Blau des Himmels
von wo er ausgegangen,
ist jeder Mensch
in diese Welt gekommen.
Doch sitzt der eine
sich verirrend
in der dunklen Nische
eines Labyrinthenarmes
ohne Ziel,
während der andere
im Ausgang stehend dieser Welt
vom freien Leben
kraftvoll zeugt.

C: Atme mir ein,
du Mensch,
den Duft
des Inneren Himmels
ohne Unterlaß,
gleich, wo du stehst
in diesem Kerkerbau der Welt -
und du wirst zeugen
von dem Licht,
das ewig ist:
vom ewig Seienden -
dem Geist des Alls -
dem inneren Christ. -
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1993

 

VERGANGENHEIT UND ZUKUNFT - EIN DIALOG

W: Wenn sich ein alter Mensch und ein Kind ansehen, dann sieht der eine in seine Zukunft, der Andere aber in seine Vergangenheit.

M: Ja, denn der Eine sieht was er sein wird - der Andere aber, was er war.

W: Nun ist es aber auch so, daß der, welcher in seine Zukunft sieht auch seine Vergangenheit erblickt, und der in seine Vergangenheit sieht, gleichzeitig auch in seine Zukunft schaut.

M: Wie ist das zu verstehen?

W: Vergangenheit und Zukunft sind wie ein alter Mensch und ein Kind. Treffen sie sich, so bleiben sie wie gebannt voreinander stehen und sehen sich an.
Tief in sich ahnen sie, daß es den Einen ohne den Anderen nicht gäbe. Nun ich will es dir erklären.
Wenn also das Kind den alten Menschen anschaut, so sieht es doch nicht nur dessen Leib, sondern auch seine Augen und nimmt diese mit dem Leib in seinem Bewußtsein auf?

M: Ohne Zweifel.

W: Indem das Kind aber auch des alten Menschen Augen in seinem Bewußtsein aufnimmt, nimmt es doch mit diesen in sich auf, was dieselben vorher in sich aufgenommen haben?

M: Offensichtlich.

W: Die Augen des Alten blicken aber auf das Kind, d.h. sie sehen in die Vergangenheit.
Das Kind, indem es den alten Menschen ansieht, blickt es in seine Zukunft. Indem es aber auf seine Augen sieht - welche in die Vergangenheit schauen - so schaut es gleichzeitig in die Vergangenheit.

M: Das ist einleuchtend. Wie steht es aber mit dem Alten? Blickt auch er in Vergangenheit und Zukunft zugleich?

W: In der Tat! Indem er auf das Kind hinsieht, blickt er auf das was er war, d.h. in seine Vergangenheit. Indem er aber in die Augen eines Kind sieht, welche ihn, d.h. seine Zukunft anschauen, so blickt er mit dem Kinde gleichzeitig auch in das Zukünftige.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1990

 

DER SONNENSTRAHL UND DIE ROSEN
Eine Geschichte für kleine Kinder. Erfunden und illustriert von Johann Wolfgang Busch

"NUN WIRD ES DUNKEL MEIN KLEINES", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch
"NUN WIRD ES DUNKEL MEIN KLEINES", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch

Die Dämmerung hatte sich schon wie eine große Decke über den kleinen Park gelegt. Wie zum Gruß schwebte ein einzelner Sonnenstrahl noch einmal hinüber zur Hecke, wo die Rosen standen. Dort lauschte er einer Mutter-Rose, die gerade ihrem Kind eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen wollte. So hörte der Sonnenstrahl, wie die Mutter erzählte: "Nun wird es dunkel, mein Kleines, denn die liebe Sonne, die uns den ganzen Tag gewärmt und gepflegt hat, macht sich nun auf den Weg und verläßt uns für die Dauer einer Nacht." "Wohin geht sie?", fragte die Kinderblume, "Ich will nicht, dass sie fortgeht, denn ich fürchte mich im Dunkeln."

 

"SIE UNTERNIMMT EINE WEITE WANDERUNG", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch
"SIE UNTERNIMMT EINE WEITE WANDERUNG", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch

"Sie unternimmt eine weite Wanderung", antwortete die Mutter, "in ganz entlegenen Gebieten der Erde richtet sie unseren Verwandten Grüße aus. In Afrika zum Beispiel, da leben auch viele Blumen, so wie hier. Sie sehen dort vielleicht etwas anders aus als wir. Doch dort, wie überall in der Welt, machen wir Blumen die Welt bunt, und erinnern die Menschen stets an das Reich der Phantasie". "Was ist das - Phantasie?", wollte die kleine Rose wissen. "Die Phantasie ist für die Menschen etwas sehr Wichtiges mein Kind", antwortete die Mutter-Rose. "Sie ist für die Menschen gerade so wichtig, wie für uns Blumen die Sonne.

 

"DENN DIE SONNE REDET SEHR LEISE", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch
"DENN DIE SONNE REDET SEHR LEISE", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch

Die Seelen der Menschen müßten sterben, wenn es die Phantasie einmal nicht mehr geben würde." "Ich habe solche Angst!'', rief da die kleine Rose, "Es wird immer dunkler und wenn die Sonne morgen nicht wieder kommt, so müssen wir alle sterben!" "Sie kommt bestimmt morgen früh zurück!", sagte die große Rose, "Hörst du denn nicht, wie sie flüstert in der Dämmerung? Sie flüstert allen Blumenkindern zu und tröstet sie bevor sie geht. Hörst du was sie sagt?" Sie sagt: "Habt keine Angst, meine kleinen Blumenkinder, habt keine Angst vor der Umarmung der Nacht. Ich bin nicht lange fort und erwecke morgen in euch, was ihr heute gedacht. Ich gehe zu euren Brüdern und Schwestern am anderen Ende der Welt. Denn wenn ich bei euch bin, ist für sie Nacht." "Nein ich höre nicht wie sie spricht", erwiderte das Rosenkind. "Du mußt nur genau hinhören", antwortete die Rosenmutter, "denn die Sonne redet sehr leise."

 

"DER SONNENSTRAHL HAT ES MIR ERZÄHLT", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch
"DER SONNENSTRAHL HAT ES MIR ERZÄHLT", Aquarell, 1990, ©Johann Wolfgang Busch

Inzwischen war die Nacht in jeden Winkel des Parkes eingedrungen, und umfing alles Leben mit ihrer sanften Stille. Der Sonnenstrahl hatte der Geschichte aufmerksam zugehört und hatte Mühe, sich von der Mutter-Rose und ihrem Kinde zu trennen, so gerührt war er. Noch immer hielt er die beiden Blumen zärtlich umarmt und gab jeder einen ganz lieben Kuss. "Woher weißt du das alles?", fragte das kleine Blumenkind gähnend, denn es war sehr, sehr müde geworden. "Der Sonnenstrahl hat es mir erzählt", sagte die Mutter. Bei diesen Worten zog sich auch der letzte Sonnenstrahl aus dem Park zurück, denn er hatte ja bis morgen noch einen langen Weg vor sich.
  

© Johann Wolfgang Busch

 

 


1985

 

ES WAR EINMAL EIN VOGEL MITTEN IM WINTER
Ein japanisches Märchen - mit Aquarellen von ©Johann Wolfgang Busch, 1985

ES WAR EINMAL EIN VOGEL MITTEN IM WINTER, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
ES WAR EINMAL EIN VOGEL MITTEN IM WINTER, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Es war einmal ein Vogel mitten im Winter. Der suchte etwas für seinen hungrigen Magen. Himmel und Erde waren weiß von Schnee und der See war zugefroren. Schwach vor Hunger und Kälte setzte sich der Vogel auf den Spiegel des Sees und fragte: “Sag Eis, wie kommt es, dass du so stark bist?” “Ich bin nicht stark!”, antwortete das Eis, “wäre ich es, so könnte mich die Sonne nicht auftauen.”

DA FLOG DER VOGEL ZUR SONNE UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
DA FLOG DER VOGEL ZUR SONNE UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Da flog der Vogel zur Sonne und fragte: “Sag Sonne, wie kommt es, dass du so stark bist?” “Ich bin nicht stark!”, sagte die Sonne errötend vor Scham, “wäre ich stark, so könnten mich die Wolken nicht verdecken.”

DA FLOG DER VOGEL ZU DEN WOLKEN UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
DA FLOG DER VOGEL ZU DEN WOLKEN UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Da flog der Vogel zu den Wolken und fragte: “Sagt Wolken, wie kommt es, dass ihr so stark seid?” “Wir sind nicht stark!”, sagten die Wolken, “wären wir es, so könnte uns der Wind nicht auseinander-treiben.”

DA FLOG DER VOGEL MIT DEM WIND UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
DA FLOG DER VOGEL MIT DEM WIND UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Und der Vogel flog mit dem Wind und fragte: “Wie kommt es, dass du so stark bist, Wind?” “Ich bin nicht stark!”, sagte der Wind, “wäre ich stark, so könnten mir die Berge nicht trotzen.

Und der Vogel eilte zu den Bergen und rief: “Wie kommt es, dass ihr so stark seid, Berge.” "Wir sind nicht stark!”, sagten die Berge, “wären wir stark, so könnte der Mensch uns nicht aushöhlen.”

DA FLOG DER VOGEL ZUM MENSCHEN UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
DA FLOG DER VOGEL ZUM MENSCHEN UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Und der Vogel flog zum Menschen und fragte:
”Wie kommt es, dass du so stark bist?”

“Ich bin wohl stark!”, sagte der Mensch, “aber doch noch schwach genug, sonst könnte der Tod mich nicht hinwegraffen.”

DA FLOG DER VOGEL ZUM TOD UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch
DA FLOG DER VOGEL ZUM TOD UND FRAGTE, Aquarell, 1985, ©Johann Wolfgang Busch

Da flog der Vogel zum Tod und fragte:

“Wie kommt es Tod, dass du so stark bist?” “Ich bin wohl sehr stark!”, sagte der Tod, “aber es gibt etwas, das ist stärker als ich!” “Und was sollte das sein?”, fragte der Vogel. “Das Lied aus deinem reinen Herzen überdauert alle Dinge!”, sagte der Tod.

Da hielt der Vogel inne mit Fragen und sein Hunger war gestillt. Er setzte sich auf einen Baum und sang sein Lied. Und wer es hört, weiß, dass es nicht vergeht.

 

 

 

 

 

 

 

 


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